Winter in Regensburg
Er wusste es noch nicht, aber es war sein letztes Getafel als König von Böhmen. An jenem nebeligen Morgen des 8. November 1618 sass Friedrich, Kurfürst der Pfalz und gewählter König von Böhmen, zusammen mit dem englischen Gesandten und weiteren fünfhundert Gästen im grossen Saal des Hradschin, der Prager Burg, bei erlesenen Spezereien.
Auch die Königin, eine englische Prinzessin und ebenso wie Friedrich von gut-protestantischem Glauben, genoss die Freuden der böhmischen Küche. Ihre beliebteste Hofdame jedoch fehlte und das war verwunderlich. Dass auch ihr Gatte nicht zugegen war, fiel seltsamerweise niemandem auf.
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Nur einige Meilen vor den Toren Prags rückte zur selben Stunde das vom Bayern Tilly geführte Heer der katholischen Liga gegen die Böhmen und Pfälzer, die sich am Weissen Berg verschanzt hatten, vor. Eine Schlacht zu gewinnen, bei der sich die Verteidiger oberhalb der Angreifer befanden, erschien den Landsknechten als Höllenfahrt, doch Tilly hatte vorgesorgt: Er hatte immer gewusst, dass er den Vorteil der Verteidiger in einen Nachteil verwandeln könnte, wenn er die Artillerie der Protestanten ausfindig machen und vor der Schlacht zerstören könnte.
Und das hatte er getan. Im Morgengrauen war eine Schwadron der Bayern auf jenem von Buschwerk verdeckten Plateau, auf dem die böhmischen Kanonen standen, erschienen, hatte die Wachen überwältigt und die Kanonen zerstört.
Wie er von diesem Versteck erfahren hatte, gedachte er geheim zu halten: Von einer blutjungen englischen Hofdame, die sich mit Mylady ansprechen liess und erstaunlich gut französisch sprach. Tilly lachte leise.
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Während sich bei Prag das Glücksrad weiterdrehte und dem armen Friedrich, den man bald darauf abschätzig den Winterkönigkönig nannte, seine hässliche Seite zeigte, war Mylady auf dem Weg nach Westen.
Sie hatte England verraten, was ihr ihr Gatte nie verzeihen würde, so er es entdecken würde, aber sie hatte ihrer Heimat gedient. Und ihrer Börse, dachte sie, denn der Kardinal war in solchen Fällen nicht knauserig. Als zuständiger Minister für Aussenpolitik war Richelieu Diplomat und Geheimdienstler gleichermassen und wusste, dass besondere Dienste besonders belohnt werden müssen.
Was der Kardinal mit der Unterstützung Habsburgs und Bayerns bezweckte, war Mylady nicht klar, immerhin schien es offensichtlich, dass er England und die Protestanten schwächen wollte.
Als sie die bayerische Grenze erreichte, fühlte sie sich wohler, denn der wirre Irrglaube der Böhmen hatte ihr während all der Wochen ihres Aufenthaltes Sorgen gemacht. Die Böhmen, so fand sie, waren in der Lage, jede Autorität zu missachten und würden womöglich auch eilig reisende Damen aus dem Ausland nicht mit Samthandschuhen anfassen, wenn sie Verdacht schöpften, dass jene Damen, so schön sie auch sein mochten, allzu eilig ihr Land zu verlassen gedachten.
In Regensburg nahm sie Quartier, und beschied dem Wirt, der sie mit allerlei Geschichten von Reichstagen, Kaisern und Fürsten unterhalten wollte, sich zu verfügen, nachdem er ihr ein Glas Wasser und ein halbes Huhn gebracht hätte.
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Kurz vor Regensburg hätte Lord Winter beinah die Spur seiner Frau verloren. An einer Kreuzung kostete ihn die Auskunft eines Bauern, den er nach einer schönen blonden Dame auf einem Rappen gefragt hatte, einen halben Dukaten Trinkgeld und die allergrösste Mühe, den Dialekt des guten Mannes zu verstehen. Immerhin hatte er nach einigen Minuten Erfolg und ritt gegen Abend in der Reichsstadt ein. Es gab entschieden zu viele Gasthöfe, wie er fand, denn erst beim achten Wirt, den er fragte, ob eine Dame just heute abgestiegen sei, sah er das gierige Funkeln in den Augen, welches ein gesprochenes „Nein!“ bekanntlich zu einem „Ja, wenn Ihr mir Trinkgeld gebt!“ macht.
Lord Winter verkündete, dass er nur eine Nacht bleiben wolle und bezahlte für eine Woche.
„Das zweite Zimmer links nach der Treppe“, sagte der Wirt.
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Mylady hatte nicht die Absicht, ihr Zimmer zu verlassen. Vielmehr wollte sie morgen in aller Frühe aufbrechen, wahrscheinlich sogar schon vor Morgengrauen gegen sechs Uhr, um Paris vor einem möglichen frühen Wintereinbruch zu erreichen.
Als sie beinahe eingeschlafen war, hörte sie, wie in einem anderen Zimmer des Gasthofes ein schwerer Gegenstand zu Boden fiel. Sie fluchte auf eine Art, wie es ihr Stand und ihre Schönheit ihr eigentlich hätten verbieten sollen, denn sie brauchte Schlaf.
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Lord Winter war unsicherer als es der geneigte Leser von englischen Edelmännern kennen wird. Er verehrte die Schönheit und den Geist seiner Frau über alle Massen, jedoch glaubte er immer auf der Hut sein zu müssen, denn Mylady war nicht mit all den Damen zu vergleichen, die er nach Meinung seiner Familie hätte heiraten sollen. Ihr Vergangenheit blieb rätselhaft, über ihren französischen Adelstitel nachzusinnen, traute er sich nicht, da er fürchtete, bei Aufklärung Konsequenzen ziehen zu müssen. Myladys Verschwinden aus Prag jedoch war mehr als er sich bieten lassen konnte. Als der böhmische Hauptmann vor den König getreten war und nur „Verrat! Unsere Kanonen wurden gestürmt!“, gesagt hatte, da hatte Winter gewusst, wie die Schlacht ausgehen würde und hatte seine Frau rufen lassen. Als diese nach einer Stunde noch immer nicht gefunden worden war, hatte er sich an heimliche Briefwechsel auf französisch erinnert und war davongeritten, sie zu suchen. Jetzt würde er mit ihr sprechen müssen und er fürchtete, dass es ihr letztes Gespräch werden könnte.
Die Pistole, die er dem Gespräch beizugesellen gedachte, fiel ihm aus seiner zitternden Hand. Er fluchte.
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So lautlos es Lord Winter möglich war, öffnete er Myladys Tür. Nun, da sie nur angelehnt war, blickte er in den Raum und sah, dass seine Frau schlief. Wie immer verdeckte ein Morgenmantel ihre Schultern und selbst hier, in einem nicht exquisit zu nennenden Gasthof mitten im Reich, fragte er sich, warum ihre kokette Art, mit der sie ihr blendendes Aussehen nach Belieben ins Feld führte, sich nicht auf ihren Körper erschreckte, den sie selbst in gemeinsamen Nächten sorgsamer verhüllte als es Nonnen tun würden.
Er betrat den Raum, schloss die Tür hinter sich ebenso leise wie er sie geöffnet hatte und beugte sich über seine Frau. Nicht einmal der schwere Verdacht, den er hegte, konnte ihn hindern, eine nahezu zärtliche Stimme aufzusetzen, als er sagte: „Mylady, habt die Güte zu erwachen! Mir scheint, ein Gespräch unter Eheleuten ist höchst wünschenswert.“
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„Winter!“
Nur einmal in ihrem Leben hatte Mylady soviel Todesangst gespürt, wie in diesem Augenblick. Was wusste ihr Mann? Wie lange war er schon hier? Sie griff sich an die Schulter und stellte erleichtert fest, dass sie vollständig bekleidet war. Er kannte ihr grosses Geheimnis also nicht und das kleine, nunja, selbst wenn er es kannte, würde er nicht weitererzählen. Nicht mit jenem kleinen silbernen Dolch im Nacken, den sie ihm verpassen würde, wenn er die Dummheit besass, ihre Umarmung zu erwidern.
„Oh, Mylord, wie unendlich glücklich macht es mich, dass Ihr mich gefunden habt. Kommt an mein Herz!“
Lord Winter, ein Mann bis zu seinem Tod, legte seine Pistole beiseite und öffnete die Arme.
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„Hab ich noch etwas vergessen?“, fragte sich Mylady, die sich entschieden hatte, doch schon gegen fünf Uhr aufzubrechen.
„Ah ja, in der Tat.“
Sie biss in einen Apfel. Den Rest warf sie weg.