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Die Idee der Degeneration und der falschen Ideale finde ich interessant (ich abstrahiere jetzt mal von den Parallelen zu "fin de siècle" und bleibe beim Buch)
Ich bin jetzt auch nur vom Buch als in sich geschlossener Welt ausgegangen, nicht davon, daß wir hier ein fiktives 17. Jahrhundert aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts und in letzter Konsequenz auch gebrochen durch unsere Kenntnis, bzw. Einschätzung der Entstehungszeit und der Handlungszeit des Romans sehen (interessant finde ich dazu Umberto Ecos Einschätzung in der „Nachschrift zum Namen der Rose“, in der er davon ausgeht, daß zumindest „Die drei Musketiere“ in gewisser Weise eher „zeitlos“ ist, bzw. eine Epoche nur als Kulisse nutzt). Darum, ob die Aussagen, die Dumas trifft, historisch haltbar sind, geht es mir zunächst einmal nicht, und letztlich auch (noch) nicht darum, wie seine eigene Zeit in die Romane einfließt.
Wenn man zunächst einmal die Musketier-Triologie als „geschlossene Welt“ betrachtet, erscheint es mir so, als ob ein Zeiten- und Wertewandel von der Epoche Louis’ XIII und Richelieus bis hin zum Absolutismus unter Louis XIV dargestellt wird – interessant finde ich in dieser Hinsicht besonders die Vorausverweise im ersten Band (etwa im zweiten Kapitel, wenn anläßlich der Vorstellung Monsieur de Trévilles ein Bogen Henri IV bis zu Louis XIV gespannt wird), aber auch die Neubewertung Richelieus, die nach seinem Tode von den Charakteren wahrgenommen wird (wobei es sicher auch interessant wäre, die jeweilige „Einbindung“ d’Artagnans in das Herrschaftssystem durch Richelieu und Ludwig miteinander zu vergleichen).
Generell habe ich – aber das mag eine subjektive Einschätzung sein – aus dem Gesagten herausgelesen, daß der stattfindende Wandel letztlich als derjenige von einem eher feudalen System mit einem starken, herrschaftsgewohnt auftretenden Adel und einem König als primus inter pares hin zum Absolutismus ist und das damit auch ein Wertewandel einhergeht, was sich an Athos und Raoul ganz gut ablesen läßt.
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Ich hoffe, ich habe Athos nicht zu sehr demontiert ...
Ganz und gar nicht - Du hast sehr recht damit, daß er nicht ein hundertprozentig positiver Charakter im Sinne eines vorbildlichen, strahlenden Helden, dem nie etwas mißlingt (ihm mißlingt zugegebenermaßen sogar ziemlich viel), ist. Genauso recht hast Du damit, daß er sich gegenüber Raoul seinerseits auch nicht sehr anständig und rücksichtsvoll verhalten hat, zumindest jedenfalls nicht so aufrichtig, wie es wünschenswert gewesen wäre.
Ich muß versuchen, mich etwas klarer auszudrücken, um zu zeigen, warum ich die beiden kontrastiert und für Raoul den etwas problematischen Begriff "degeneriert" verwendet habe.
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was ist degenerierter - eine Frau aufzuhängen, ohne ihr auch nur die Zeit zu einer Erklärung zu lassen und sich dann aus Gewissensbissen und wegen verletzter Ehre schier zu Tode zu saufen? oder sich einzugestehen, dass die Liebe nur eine Chimäre war und nicht erfüllt werden kann und als Konsequenz sich selbst umzubringen?
Das hängt ganz davon ab, worin das Ideal (ich benutze diesen Begriff hier wertfrei) besteht, das degeneriert.
Du hast ohne Zweifel recht, daß es moralisch (zumindest aus unserer Perspektive) weitaus vertretbarer ist, Selbstmord zu begehen, als selbstherrlich (zu versuchen) jemanden zu ermorden, ohne der betreffenden Person eine Rechtfertigungsmöglichkeit zu geben, aber – die Sache scheint mir einen gewissen Sinn zu machen.
Die Geschichte mit dem Aufhängen der Frau finde ich insofern interessant, als daß diese Konsequenz der Entdeckung des Brandmals eine Zutat von Dumas ist - die übrige Geschichte stammt aus den „Mémoires de M.L.C.D.R.“ und endet, wenn ich mich recht entsinne, mit einer Auflösung der Ehe und langwierigen Rechtsstreitigkeiten, aber nicht mit einem Mord.
Athos' Art, die Sache zu lösen, ist in jedem Fall moralisch fragwürdig, und ich möchte sie hier weiß Gott nicht verteidigen - aber sie kommt mir eher wie eine bewußt "alte", etwa nach mittelalterlichen oder ähnlichen Geschichten modellierte Lösungsmöglichkeit, die einen (in sich selbst fragwürdigen) Ehrbegriff bis in eine grausige Konsequenz treibt, vor. Was vorgestellt wird, ist ein hoher Anspruch, ein klares Ideal, das bei Nichterfüllung zu drastischen Konsequenzen, die selbstherrlich verhängt werden, „berechtigt“, bzw. aus der Perspektiver der dieses Ideal vertretenden Schicht zu berechtigen scheint. In gewisser Weise fühle ich mich an die Jeschute-Episode im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach erinnert, wo ein (vermutetes) Abweichen vom Ideal (hier: Untreue der Ehefrau) zu einer strengen Bestrafung (wenn auch nicht zur Ermordung) führt; ähnliches läßt sich in vielen mittelalterlichen Geschichten beobachten, und ich könnte mir vorstellen, daß Dumas es hier bewußt als ein Kennzeichen der alten Adelsschicht verwendet, die selbst gegenüber dem König mit einem gewissen Anspruch auftreten kann und aufzutreten wagt (Du verweist ganz richtig auf Athos’ Verhalten in den späteren Bänden). Ob ihre Ideale gute Ideale sind, mag dahingestellt bleiben – aber sie kommen relativ konsequent zum Ausdruck, besonders, so paradox das klingen mag, in dem „Gericht“ über Mylady gegen Ende des ersten Buchs, das sehr viel von Fehmegericht und einer sich auf altes Gewohnheitsrecht und Adelsanspruch berufenden Selbstherrlichkeit hat, und deutlich zeigt, daß die vier Musketiere und der Kardinal hier in zwei Welten handeln und denken. Die Frage des Kardinals auf d’Artagnans Worte über Mylady (Elle est en prison?) und seine Bewertung derjenigen, die Selbstjustiz üben, als assassins, zeigen, wie sehr er, als Vordenker des Absolutismus, in staatlichen Strukturen und in geregelter Gerichtsbarkeit denkt, während die andere Seite (unter Anführung von Athos) sich berechtigt glaubt, sich selbst als höchste Instanz zu setzen, und dabei relativ schamlos einen Fehler der Regierenden (die von Richelieu zu schwammig ausgestellte Vollmacht, die natürlich zugleich wunderbar in einen Roman des 19. Jhs. als Handlungselement paßt) ausnutzt – man nimmt sich sein Recht und glaubt sich dazu auch berechtigt, trifft auch selbst seine Entscheidung, wen man als würdig befindet, ihm zu dienen (und die Tatsache, daß Richelieu d’Artagnan bei seiner Schwäche – der Hoffnung auf Aufstieg in der militärischen Hierarchie – packt und ihn so in das System einbinden, „neutralisieren“, kann, ist gewissermaßen der Anfang vom Ende dieser Haltung). Es ist alles ein bißchen ironisiert (weder Mme Bonacieux noch die Königin machen eigentlich eine gute Figur als „Minneherrin“), alles ein bißchen verquer und nicht hundertprozentig so, aber im Großen und Ganzen erscheint es doch als die letzte Stufe einer alten Zeit und Ethik, die ihre Wurzeln im Mittelalter hat... Der Don-Quixote-Vergleich am Anfang ist eigentlich gar nicht mal so unangebracht.
Nun wird der Gegensatz vielleicht auch klarer, den Du im Grunde schon selbst formulierst:
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eine Frau aufzuhängen, ohne ihr auch nur die Zeit zu einer Erklärung zu lassen und sich dann aus Gewissensbissen und wegen verletzter Ehre schier zu Tode zu saufen? oder sich einzugestehen, dass die Liebe nur eine Chimäre war und nicht erfüllt werden kann und als Konsequenz sich selbst umzubringen?
Athos’ Fall ist grausig, erschreckend – aber in seinem archaischen Ehrverständnis auch erschreckend konsequent und in dieser scheußlichen Weise irgendwie beeindruckend (nicht im positiven Sinn von „lobenswert eindrucksvoll“, sondern abermals wertneutral gemeint); anders als bei den „Präzedenzfällen“ der mittelalterlichen Literatur haben wir hier nur gleichzeitig Andeutungen, was die persönliche Ebene betrifft (Gewissensbisse, gekränkte Ehre/Eitelkeit), so daß implizit schon eine gewisse Hinterfragung des Systems stattfindet. Das Trinken mag ein „Selbstmord auf Raten“ sein, ein persönliches Scheitern – aber das Ideal an sich wird nicht angekratzt, es ist für die Charaktere eine klare Wertvorstellung im Hintergrund (so falsch sie vielleicht sein mag).
Dagegen scheint mir das Ganze bei Raoul eher darauf hinauszulaufen, daß die an sich wertneutrale Tugend der Konsequenz für einen Selbstmord eingesetzt wird, der letztlich aus dem Zusammenbruch eines Weltbilds resultiert (kann aber auch sein, daß ich da etwas hineininterpretiere und falsch gelesen habe) – Louise und Raouls Ideal scheinen mir gekoppelt zu sein, sobald klar wird, daß Louise nicht ist, was sie zu sein schien, geht auch das Ideal über Bord.
Das scheint mir ein Gegensatz zu Athos zu sein, bei dem die konkrete Person – Mylady – und seine Ideale durchaus getrennt bestehen.
Zugespitzt gesagt – Athos beantwortet die Erkenntnis, daß sein Ideal durch seine Frau verletzt ist, mit einem (sehr destruktiven und nicht nachahmenswerten) Schritt gegen ebenjene Frau (woraus dann natürlich Gewissensbisse, etc. resultieren), verliert aber nicht seine Ideale an sich; für Raoul bricht hingegen seine gesamte Welt zusammen, als die Beziehung zu Louise scheitert, und er beantwortet das mit einem (ebenfalls sehr destruktiven und nicht nachahmenswerten) Schritt gegen sich selbst, ist also nicht in der Lage, letztlich die Konsequenzen seines Handels, seiner Fehleinschätzung und die Erkenntnis einer nicht perfekten Welt zu ertragen. Das meinte ich mit „Degeneration“ – aber, wie gesagt, das ist eine subjektive Deutung!